„Den anderen Morgen, als ich die Augen aufmachte, da war mein Zimmer hell offen und ich lag auf meiner Schlafstatt von einer Anzahl Kinder umringt; da ich wusste, dass ich’s mit Halbwilden zu tun hatte, so ließ ich mir alles gefallen; die Kinder warteten schon seit Früh Morgens, ob ich nicht hinauskomme – aber ihre Ungeduld trieb sie zu mir ins Zimmer“
(aus dem Brief eines österreichischen Reisenden, der im Mai 1871 von Yokohama aus einen Ausflug unternommen und in einem Landgasthof übernachtet hatte)
Dass Japan ein Paradies der Kinder und alter Leute ist, ja, dass die Jüngsten und Ältesten der Gesellschaft
eine gewisse Narrenfreiheit für sich in Anspruch nehmen dürfen, weil sie dem Himmel noch oder schon am
nächsten sind, ist zum geflügelten Wort geworden. So ganz stimmt das heutzutage nicht mehr in dieser Radikalität. Denn auch in der japanischen Gesellschaft ist vieles in Bewegung. Es leben auch in Japan heute kaum noch drei Generationen gleich zeitig unter einem Dach, wo sich die Alten auf die sorgenfreie Betreuung durch ihre erwachsenen Kinder und sich die Jüngsten auf das pure Verwöhnen durch den großen Rest der lieben Familie verlassen können. Einige Wahrheit steckt aber schon dahinter, wenn man da oder dort im öffentlichen Raum, auf Spazierwegen oder in Eisenbahnen, Mutter und Kind begegnet. Da kann man schon meinen, dass vornehmlich die lieben Kindlein ihre Mütter beherrschen und die Mütter als bloße Erfüllungsgehilfen dienen, um ihrem Nachwuchs zu Lust und Laune da zu sein. Manchmal ist die Fröhlichkeit der Kinder schon etwas mehr als fröhlich. Ein Paradies für Kinder?
Kind sein in Japan ehedem
Lange war es in Japan üblich gewesen, das Geburtsjahr als erstes Lebensjahr zu zählen – egal, ob die Geburt am Anfang oder Ende eines Jahres war. Somit begann für jedes neugeborene Kind nach dem ersten Neujahrsfest bereits das zweite Lebensjahr. 32 Tage nach der Geburt eines Sohnes und 33 Ta ge nach der Geburt einer
Tochter begab sich die Familie zu einem Heiligtum, um den Segen der Gottheit für das Kind zu erbitten. Kinder erhielten bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter nur einen vorläufigen Namen. Wegen der hohen Kindersterblichkeit war es Brauch, in den Namen eine schützende Bedeutung einzubauen, um Schaden und böse
Dämonen fernzuhalten. Beim eigentlichen Namen wurde später auf Namensteile von Vorfahren zurückgegriffen um damit die Zusammengehörigkeit über Generationen hinweg auszudrücken. Heute werden die endgültigen Vornamen schon bald nach der Geburt von der Behörde registriert. Die Eltern haben hierbei große Freiheit, oft sind es nachahmenswerte Eigenschaften, die die Wahl der Namen inspirieren. Manchmal siegt die Mode…..
Aber auch in einer offenen Gesellschaft, die schon lange von demokratischen Gesetzen geprägt ist, leben Traditionen fort. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte in Japan der Kriegerstand (die sogen. Samurai) das öffentliche Leben, trotz der geringen Zahl von etwa 8 Prozent der Bevölkerung. Ihre Wertvorstellungen hatten Vorbildcharakter, auch auf die übergroße Schar der Bauern und die kleinere Schar der Stadtbewohner. Im Idealfall bestand eine Samurai-Familie aus drei Kindern – zwei Söhnen und einer Tochter. Im Sprichwort hieß das „Ein Kind zum Verkauf, eines für die Nachfolge, und eines zur Reserve“. Der erste Sohn war der Erbe. Der zweite gründete entweder eine Zweigfamilie, konnte notfalls für den ersten einspringen,
oder aber wurde zur Adoption in eine nahestehende Familie gegeben. Aus einer angesehenen kinderreichen
Familie einen Sohn zur Adoption zu übernehmen galt bei Kinderlosigkeit für beide Seiten als eine ehrenhafte und attraktive Lösung. Auch noch heute. Ideelle Bindung wog in Japan stets stärker als bloße Blutsverwandtschaft. Mit der Annahme des Familienamens gingen alle Rechte und Pflichten auf das Adoptivkind über.
Der Fortführung der Familientradition stand nichts mehr im Weg. Eine Tochter wurde stets im Sinne ihrer
Eltern verheiratet. Sie war das Kind, das ihre Familie verließ, „verkauft“ (natürlich nicht um Geld) und Mitglied eines anderen Hauses wurde. Im Sinne ihrer Eltern verheiratet zu werden, ist heute beileibe nicht mehr das,
was junge Frauen wünschen. Auch nicht eine frühe Ehe. Und zum Bedauern der hohen Politik ebenfalls keine große Kinderzahl. Japan befindet sich inzwischen in einer gesellschaftlichen Situation, die mit allen westlichen Industriestaaten vergleichbar ist. Drastischer Rückgang der Geburtenrate. Mit 1,39 Geburten pro Frau während ihrer gebärfähigen Lebenszeit sogar die geringste aller OECDLänder. Es ist dies einer Entwicklung geschuldet, die gewöhnlich unter dem Begriff Wertewandel zusammengefasst wird: höhere Bildung der Frauen, Wunsch
nach Berufstätigkeit und eigenem Einkommen nach Schul- oder Universitätsabschluss, was zu einem durchschnittlichen Heiratsalter von 29,0 Jahren bei Frauen führt und wie von selbst in weniger Kindern und im Endeffekt einer steten Überalterung der Gesellschaft zum Ausdruck kommt.
Es gibt dabei große regionale Unterschiede. Okinawa, die südlichste Präfektur Japans, weist eine Fruchtbarkeitsziffer von 1,86 auf, gefolgt von den benachbarten Präfekturen, am dramatischsten bietet
sich das andere Ende der Skala dar mit der Zahl 1,06 für Japans Hauptstadt, der Metropole Tokyo.
Die Liebe zum Kind ist damit nicht betroffen. Denn in einem Punkt unterscheidet sich nun doch Japan von anderen Ländern mit niederer Geburtenrate. Denn spätestens mit der Geburt des ersten – oder nur des einen – Kindes, zumeist aber bereits im Zuge der Eheschließung, scheiden Frauen signifikant häufig nämlich zu über 70 Prozent, und meist sogar endgültig aus dem Berufsleben aus, um sich der Familie zu widmen. Die Zuwendung zum Kind, zumindest nach dem Zeitaufwand gemessen, weicht im Wesentlichen nicht von jener früheren
Epoche ab, da es in einer Familie noch lebhafter zugegangen war. Es sei denn, dass der Druck auf das Kind größer
geworden ist, um zum Stolz der Familie beizutragen. Die Sitte, wie in alten Tagen vier Wochen nach der Geburt ein meist dem Wohn ort nahes Heiligtum aufzusuchen (japanisch omiya-mairi), um für Gesundheit und langes Leben des neu geborenen Kindes zu beten, ist gleich geblieben. Beim Adel war dies spätestens während
der Muromachi-Zeit (14./16. Jh.) der Brauch geworden, die übrige Bevölkerung hatte sich dem während der Edo-Zeit (17./19. Jh.) angeschlossen. Die Mutter trägt das Kind. Die ganze Familie begleitet sie. Das Neugeborene ist in ein festliches Kleid gehüllt. An noch einem feierlichen Akt wird bis heute festgehalten, dem ersten Essen (japan. okui-zome). Dieser Brauch findet 120 Tage nach der Geburt statt. Es ist die Zeit, wenn das Kind seine ersten Zähnchen bekommt. Von da an sollte das Kind nicht mehr nur Muttermilch, sondern auch
feste Nahrung zu sich nehmen können. Die Eltern richten sich selbstverständlich auch weiterhin nach den persönlichen Bedürfnissen des Kindes, symbolisch jedoch werden erstmals dem jüngsten Mitglied der Familie eine besondere Art von Reis (sekihan = roter Reis), ein ganzer Fisch, fünf Reiskuchen, Suppe, ja sogar Sake – japanischer Reiswein – vorgesetzt. Für einige Augenblicke wird auch ein Stein aus dem Areal des Heiligtums
zum Zubeißen in das Mündchen gesetzt, es ist ein Symbol der Stärke.
Japan – ein Paradies für Kinder?
So hatten wir gefragt. Jawohl, es ist ein Paradies für Kinder. Mit Einschränkungen. Kinder, wo immer man sie trifft, haben eine erstaunliche Freiheit sich aus zu toben. Zurechtweisungen sind selten. Schläge fehlen ganz. Immer schon. Man geht liebevoll mit ihnen um. Auch der österreichische Reisende, der 7 Jahre seines
Lebens in Japan verbracht hatte, übte sich in gütiger Geduld, als ihn eine Kinderschar mit ihrer Neugier malträtierte.
Das Alter aber, in dem sich die Kinder außerhalb des Hauses in das gesellschaftliche Korsett einpassen müssen, und jeder Nagel, der hervorsteht, mit dem Einklopfen zu rechnen hat, ist mittlerweile sehr früh anzusetzen. Wer es im Leben zu etwas bringen, also eine gute Ausbildung erlangen will, muss bald beginnen. Das ist Elternentscheid. Und daher beginnt eine Bildungslaufbahn, was in der westlichen Literatur genüsslich belächelt, wenn
nicht karikiert wird, bereits beim „exzellenten“ Kindergarten. Die ehrgeizige Mutter (japan. kyôiku mama) ist in Japan zu einem festen Begriff geworden. Wie sehr sie aber auch drängen mag, Wissen und Durchsetzungsfähigkeit ihres Kindes zu stärken und die im sozialen Umfeld geforderte Harmoniefähigkeit zu fördern, es bleibt auch noch heute dabei: auf Bedürfnisse und Wünsche eines Kindes einzugehen, und mit Nachsicht, Liebe und Zu wen dung nicht zu geizen. Die Kinder spüren das – und so sind sie, solange
sie der Ernst des Lebens noch nicht gänzlich ergriffen hat, die Herrscher der Familie.
Dr. Peter Pantzern
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