Kurze Biographie von André Stern
André Stern, 1971 in Paris geboren und aufgewachsen, Sohn des Forschers und Malort-Gründers Arno Stern, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Er ist Musiker, Komponist, Gitarrenbaumeister, Journalist und Autor, unter anderem des Bestsellers“… und ich war nie in der Schule“ sowie, gemeinsam mit Arno Stern, des Buches „Mein Vater, mein Freund“. Als Freibildungsexperte ist er ein gefragter Referent, der sich international (Europa, USA, Kanada, Afrika, Indien) an der Seite von zukunftsorientierten Akteuren der Bildungslandschaft stark engagiert. Daneben arbeitet er eng mit seinem Vater zusammen und ist mit Prof. Dr. Gerald Hüther Gründer und Leiter der Initiative „Männer für morgen“. Ferner leitet André Stern das „Institut Arno Stern, Labor zur Beobachtung und Erhaltung der spontanen Veranlagungen des Kindes“ und initiierte die Bewegung „Ökologie der Kindheit“. Er ist einer der Protagonisten in „Alphabet“, dem Film von Erwin Wagenhofer, und Co-Autor des gleichnamigen Buches.
Interview mit André Stern
Nein, mir fehlt überhaupt nichts – ich erkläre es Ihnen.
Natürlich habe ich dadurch das Glück in meinen Rhythmen und Ritualen und in meinen Werten nicht gestört worden zu sein, und somit bin ich noch in einem Zustand wie ein Kind – und ich meine das nicht negativ!
An dem Tag, an dem die Menschen zueinander sagen: „Du benimmst Dich wie ein Kind!“, und das nicht negativ meinen, da kann ich dann in den Ruhestand gehen.
Ich denke nicht in Vorteilen oder Nachteilen, so funktioniere ich nicht, weil ich als Kind immer das Gefühl hatte, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Wertfrei! Um auf ihre Frage zurückzukommen: was die Schule betrifft, die ich ja nie besucht habe, so fehlt es mir an nichts. Ich habe keine schlechten Erfahrungen mit dem Neuen, also mit dem Lernen gemacht und ich freue mich jeden Tag tausendmal, dass es etwas zu entdecken gibt. Ich habe keinen Mangel, ich kann alles was ich will jeden Tag lernen und erfahren, so wie ein Kind, das auch der tiefen Überzeugung ist, alles werden und lernen zu können.
Kinder gehen auch nicht gerne nur auf andere Kinder zu, sondern auf diejenigen, die spielen. Diejenigen, die spielen, sind in unserer Gesellschaft nur noch die Kinder. Stellen Sie aber in einen Raum mit Kindern einmal einen spielenden Erwachsenen – und Sie werden sehen was passiert: die Kinder stürzen sich auf diesen Erwachsenen. Und somit ging ich auch nie auf andere Kinder zu, sondern auf andere Menschen jeglicher Religion und Hautfarbe, jeden Alters mit jedem Beruf, die mit mir spielten. Das ist die wirkliche Freiheit.
Das ist ein Misstrauensantrag an die Kindheit. Es ist aber absolut unverständlich, wenn man sich mal überlegt was kindlich sein wirklich bedeutet. Wenn man Kindern den Tag selbst gestalten lässt, spielen sie den ganzen Tag. Und genau das verpönen wir. Wir haben das Spielen ja total degradiert und somit haben wir auch das Kind degradiert. Doch gerade wenn ein Kind spielt sehen wir alle Qualitäten, die wir gerne bei Erwachsenen sehen würden, z.B. Konzentrationsfähigkeit. Schauen Sie mal einem spielenden Kind zu. Diese Konzentration können Sie nicht übertreffen. Wir Erwachsenen sind nicht fähig, uns so zu konzentrieren wie ein Kind, das gerade etwas erreichen möchte. Wenn die Kinder in der Tiefe des Spiels sind zeigen Sie eine große Ernsthaftigkeit. Sie nehmen das, was sie tun ernst und sie haben die Fähigkeit, über sich selbst hinaus zu wachsen. Und haben dabei eine unglaubliche Ausdauer. Wir sind als Erwachsene nicht fähig, tausend mal über eine Pfütze zu springen. Zusätzlich sind Kinder ungemein kreativ und haben eine unglaubliche gedankliche Freiheit d in Ihrem Spiel.
Wir Erwachsene können nur noch in unseren Träumen fliegen. Kinder fliegen, wenn sie Fliegen spielen und sie SIND das Fliegen. Und würden Kinder nicht unterbrochen in Ihrem Spiel, so würden sie diese Qualitäten entwickeln. So habe ich das auch erlebt, das sollte das Natürlichste der Welt sein. Doch wir reißen die Kinder aus dieser Welt, in der sie gerade sind heraus, um sie auf die Qualitäten vorzubereiten, die wir bei ihnen sehen möchten, und stören sie dabei, diese selbst zu entwickeln. Das klingt (ist) absurd!
Und Kinder spielen nicht, sondern sie SIND ihr Spiel. Wir Erwachsene aber betrachten das Spiel des Kindes als so nichtig, dass wir es ständig unterbrechen, obwohl wir durch die Hirnforschung inzwischen wissen, dass es nichts Wichtigeres als das Spiel gibt. Lernen ist eigentlich nur ein Nebenprodukt des Spielens. Und dann kommen wir und unterbrechen das Spiel des Kindes, weil sein Spiel in unseren Augen nicht wichtig ist. Und da das Kind aber sein Spiel ist, sagen wir ihm damit, dass uns das Kind selbst keine Wichtigkeit hat. Eine weitere Verletzung, und wir merken das gar nicht.
Alle von uns tragen ein verletztes Kind in Sich. Alle haben wir eines Tages sehr früh schon gehört : „Kind so wie Du bist, so genügst Du nicht“!
Hinter der harmlos wirkenden Frage von Eltern: „Schläft das Kind durch?“ steckt die Aufforderung, sich zu verändern. Du musst ein Anderer werden, damit ich Dich mag – schlaf durch! Das begleitet uns unser ganzes Leben. Wir werden immer wieder hören: „So wie Du bist, bist Du nicht gut genug!“.
Und wir versuchen, dem Genüge zu tun und so zu werden, und haben gar keine Zeit mehr, wir Selbst zu sein. Dieses verletzte Kind tragen wir in uns, und dieser kritische Blick auf uns, aus unserer Kindheit, an dem leiden wir immer noch. Und so geht das bis man hundert Jahre alt ist und dann auch noch immer wer sagt: „Du bist eine Null!“. Und wenn wir Frieden schließen könnten mit unserem eigenen verletzten Kind, dann können wir das bei unseren Kindern anders machen. Alle Kinder dieser Welt haben den Wunsch geliebt zu werden für das, wie sie sind, weil sie so sind. „Du musst kein Anderer werden und Dich verändern“, das können wir unseren Kindern ermöglichen. Und dann kommt das Kind zu uns und ermöglicht uns die Versöhnung mit dem in uns verletzten Kind. Das ist ganz einfach eine neue Haltung dem Kind gegenüber.
Ja natürlich. Denn schwarze Pädagogik gibt es leider auch immer noch oder kommt immer wieder: das Kind als hinterlistiger Querulant, als faule Person! Aber eigentlich sind nicht die Lehrer das große Problem. Die Lehrer sind eigentlich die nächsten beim Kind und in einer sehr unangenehmen Position zwischen Schulhierarchie und Eltern. Die Lehrer haben sicher die größte Sehnsucht, dass sich etwas verändert. Ich sehe bei den Lehrern nicht das Problem, sondern eher bei uns selbst, bei den Eltern!
Weil die Eltern so bemüht sind, glückliche Erwachsene heranzuziehen. Dabei vergessen Sie aber etwas grundsätzlich Wichtiges: wenn wir wollen dass unsere Kinder eines Tages glückliche Erwachsene sind, müssen wir Ihnen heute vorleben, was glückliche Erwachsene sind. So einfach ist das. Wir sind ständige Beispiele und Vorbilder für unsere Kinder und solange wir das nicht erkennen, mühen wir uns ab und leben Ihnen genau das, was wir vermeiden wollen, vor. Was wir Ihnen heute vorleben bestimmt Ihre Zukunft. Wir sehen in unseren Kindern unsere Vergangenheit – aber sie sehen in uns Ihre Zukunft. Das stellt eine wunderbare Verantwortung dar. Wenn Sie heute kein glücklicher Erwachsener sind können Sie nicht erwarten, dass Ihre Kinder das eines Tages sind.
Freiheit bedingt auch die Anderen. Frei bin ich nur, wenn ich merke, dass es mich ohne die Anderen nicht gibt. Das nennt man die Liebe. Ohne die Anderen wäre nur Einsamkeit da und das wäre das Schlimmste was einem Kind oder uns Menschen überhaupt passieren könnte. Wenn ich in dem was ich tue einen Sinn sehe, dann ist das Freiheit. Hier spielt das Konzept der Salutogenese herein, deren drei Säulen die Verstehbarkeit der Welt und die Gestaltbarkeit und die Sinnhaftigkeit des Seins sind, daraus entsteht seelische Freiheit und Gesundheit.
So spielen Kinder nicht. Kinder spielen – um sich mit Ihrem Alltag zu verbinden – das ist etwas grundsätzlich anderes. Ein Kind spielt z.B. Billard nach seinen eigenen Regeln. Dann kommt ein Erwachsener und sagt – so spielt man Billard nicht und erklärt ihm die Regeln. Aber dadurch wurde das Kind in seinem eigenen Spiel unterbrochen – durch die Idee des Erwachsenen wie Spielen auszusehen hat. Spielen beinhaltet aber die Idee mehrere Antworten auf eine Frage zu finden – und so entwickelt sich kreativer Geist, und das sind genau die Menschen die wir heute noch bewundern. Es geht nicht darum, dass wir Schach spielen oder Spielsessions organisieren, es geht darum, dass wir den Geist nicht verlieren.
Jedes Kind, jeder Mensch möchte ein Held sein.
So lange die Paradigmen Elternhaus/Schule so sind wie sie sind – kann ein Kind in der Schule kein Held werden, zumindest nicht dauerhaft. Bist Du beliebt bei den Lehrer, dann mögen Dich vielleicht Deine Mitschüler nicht. Bist Du gut in Mathe, dann bist du aber schlecht in Turnen. Warst Du diese Woche gut in Physik dann wirst Du es vielleicht nächste Woche beim Test nicht mehr sein. Dann denkt das Kind, das ist ja nicht so schlimm, es gibt ja auch noch das zu Hause. Und dann stellt sich heraus, zu Hause kann man auch kein Held sein. Aus dem vorher genannten Grund: „Kind so wie Du bist, bist Du nicht in Ordnung, Du musst unseren Erwartungen entsprechen“ . Und da sprechen wir nur von den guten Schülern. Die Kinder, die mit schlechten Noten nach Hause kommen, die wollen wir gar nicht erwähnen. Aber auch die guten Schüler können zu Hause keine Helden sein, weil es zu Hause die verletzten Kinder gibt. Weil die Eltern selbst verletzte Kinder sind und die behandeln Ihre Kinder wie sie selbst behandelt worden sind. Sie sehen Ihre Kinder genauso wie sie selbst gesehen worden sind; und deshalb können Kinder auch zu Hause keine Helden sein.
In welcher Welt kann ein Kind dann schnell und leicht ein Held sein? In der virtuellen Welt ist es so leicht, weil der Computer diskriminiert nicht, dem Computer ist deine Schulleistung egal, dem Computer ist deine Hautfarbe, deine Religion, dein Alter oder dein Geschlecht egal. Das ist das Versprechen der virtuellen Welt.
Der Computer öffnet Dir Türen und sagt: „Komm in diese Welt!“, komm herein, denn hier kannst Du spielen und hier kannst Du ein Held werden und zwar für lange Zeit. Man wird Dich bewundern, man wird Dich mögen, man wird Dich lieben für das was Du bist – nämlich ein Superheld! Und hier in dieser virtuellen Welt ist es besser als draußen in der Welt – und dann versteht man warum das Kind nicht zurück will aus dieser Computerwelt.
Es geht also nicht darum die virtuelle Welt zu verbieten, denn die ist nicht gefährlich. Gefährlich sind die beiden anderen Lebenswelten unserer Kinder, und dorthin schicken wir unsere Kinder Tag für Tag. Und nun wird klar wo wir die Baustelle hätten. Nicht im Verbieten der virtuellen Welt, sondern indem wir die beiden anderen Welten so appetitlich machen, dass die Kinder auch Lust haben, in der analogen Welt zu verweilen. Dann hätten wir überhaupt kein Problem mit der virtuellen Welt, dann wäre sie ausschließlich das, was sie ist – eine Bereicherung.