Achtsamkeit bei der Geburt
Es ist sehr wichtig, sich daran zu erinnern, dass unsere Überzeugungen über das Gebären, was immer sie beinhalten mögen, nicht unbedingt „wahr“ sind. Unterschiedlichste Informationen und Erzählungen werden in der gedanklichen Vorbereitung auf die Geburt plötzlich bewusst.
Wenn wir uns bewusst machen, dass diese Vorstellungen lediglich Gedanken sind, und versuchen, ihre Ursprünge zu verstehen sowie den Kontext, in dem sie entstanden sind, so beginnen wir damit, die negativen Einflüsse zu entschärfen, die sie möglicherweise auf unsere Psyche ausüben.
Negative Überzeugungen und Einstellungen gegenüber Schwangerschaft, Geburt und Elternrolle können durch beiläufige Bemerkungen von Freunden und Familienmitgliedern ausgesät werden. Eine noch schlimmere Wirkung können solche Bemerkungen haben, wenn sie von Menschen stammen, die wir als mächtige und sachkundige Autoritätspersonen ansehen, ob das unsere eigenen Eltern, Ärzte, andere „Gesundheits-Fachleute“ oder Freunde sind.
Ein Weg, wie Sie sich Ihrer Überzeugungen über das Gebären bewusster werden können, ist, mit Ihrer Mutter oder Großmutter über deren persönliche Erfahrungen und andere Geburtsgeschichten in der Familie zu sprechen. Dann können Sie einen erfahrenen Arzt und/oder Hebamme suchen, die schon viele Geburten ohne Komplikationen erlebt haben. Wenn wir uns vor Augen führen, dass viele Geburten in Kliniken stattfinden, und auf der anderen Seite Geschichten über Frauen hören, die ohne jede unnötige Intervention gebären, werden wir den Geburtsprozess besser verstehen und der natürlichen Kraft und Weisheit unseres Körpers vertrauen. Uns wird allmählich klar werden, dass wir mit einem Minimum an ärztlicher Hilfe oder ganz ohne jede medizinische Intervention eine Umgebung für die Geburt schaffen können, die für das Baby wie auch für uns selbst wohltuender und gesünder ist – auch wenn wir nicht alles ständig überwachen und kontrollieren. Unsere Gefühle und die äußere Situation zu erforschen, Informationen zu sammeln und unsere Intuition zu nutzen, kann uns helfen, zu einer Entscheidung zu gelangen, die sowohl unsere eigenen Bedürfnisse als auch diejenigen des Babys in größtmöglichen Maße berücksichtigt.
Die Stärke und Intensität der Wehen zwingen uns, in jedem Augenblick gegenwärtig zu sein. Die Wehen verlaufen bei jeder Frau völlig anders. Sie haben immer einen ganz individuellen Rhythmus und ein individuelles Tempo. Bei der Geburt müssen alle Anwesenden von Ihren Erwartungen und Vorstellungen abrücken.
Falls Sie sich während der Schwangerschaft durch Konzentration auf Ihren Atem bemüht haben, Achtsamkeit zu entwickeln, kann Ihnen das helfen, während des Geburtsprozesses in der Gegenwart zentriert, entspannt und konzentriert zu bleiben. Wenn die Wehen dann intensiver werden, können Sie sich mit Hilfe des Atems voll und ganz in den Schmerz und in die fordernde Arbeit des Gebärens Hinein begeben. Dadurch können Sie diesen Prozess völlig bewusst erleben und annehmen. Am Ende steht nicht nur die Ankunft des Babys sondern auch eine ungeheuer intensive Erfahrung, die uns unser ganzes Leben lang begleiten wird.
Wenn wir den Atemnutzen, umwährend der Wehen voll und ganz in der Gegenwart zu sein, um in jeden Schmerz hineinzuatmen, benötigen wir weniger Energie, als wenn wir versuchen, uns vom Schmerz abzulenken oder gegen ihn anzukämpfen. Wenn wir den Schmerz annehmen können wir uns leichter öffnen und die Geburt geschehen lassen. Häufig ist die Angst vor dem Schmerz der Geburt schlimmer, als der Schmerz selbst. Sie haben mehr positive Energie für den Geburtsprozess zur Verfügung, wenn sie jede Kontraktion bewusst erleben. Dieses Bemühen um völlige Präsenz in jedem Augenblick während der Wehen und während der Geburt erfordert Mut, Konzentration und die Liebe und Unterstützung der anwesenden Helfer.
Der Schmerz des Geburtsprozesses ist ein gesunder Schmerz. Er entsteht durch einen intensiven physiologischen Prozess – die Kontraktion des Uterus, die zunächst den Gebärmutterhals öffnet und später das Baby aus dem Körper der Mutter befördert. Frauen können durch positive Affirmationen den Geburtsvorgang unterstützen – beispielsweise mit der Vorstellung, dass sich der Gebärmutterhals wie eine Blüte öffnet.
Bei der Geburt ist jeder Augenblick eine neue Herausforderung. Manchmal sind wir in der Lage, uns Diesen Herausforderungen zu stellen, in anderen Fällen Scheuen wir vor ihnen zurück. Wenn wir merken, wie wir uns zurückziehen und verschließen, können wir unsere Aufmerksamkeit auf den Atem lenken. Das wird uns helfen, uns auf den gegenwärtigen Augenblick auszurichten, sodass wir mit ihm arbeiten können. Dann ist jeder Augenblick wahrhaft ein neuer Anfang, und Neuanfänge sind genau das, was während des Geburtsprozesses nach jeder Kontraktion erforderlich ist. Unsere Bereitschaft, immer wieder neu anzufangen, ist Ausdruck des umfassendsten Neuanfangs überhaupt – nach langer Vorbereitung und harter Arbeit wird schließlich das Kind geboren und mit ihm auch die Mutter.
Während der Schwangerschaft konzentrieren wir den größten Teil unserer Energie auf die bevorstehende Geburt des Babys. Erst nach der Geburt wird uns klar, dass das nur der Anfang war. Doch die innere Arbeit während der Schwangerschaft und der Geburt ist eine gute Vorbereitung auf den achtsamen Umgang mit dem Kind. Die Macht und Unmittelbarkeit, die wir während der Geburt erleben, bringt uns mit der Essenz der Achtsamkeitspraxis in Kontakt. Die Geburt unseres Babys kann auch in uns selbst bislang ungeahnte Möglichkeiten zutage fördern.
Jon Kabat-Zinn aus: Myla und Jon Kabat-Zinn
„Mit Kindern wachsen“, Arbor-Verlag, ISBN 978-3-936855-48-7
Myla Kabat-Zinn arbeitete vor allem im Bereich Geburtsvorbereitung und als Geburtsbegleiterin. Für viele Jahre war sie Vizedirektorin von Birth Day, einer Organisation zur Unterstützung von natürlichen Geburten. Sie ist Mutter von 3 Kindern.