Eine Traumatisierung infolge eines überwältigenden Ereignisses kann von einem Moment auf den anderen das Leben eines Menschen verändern und sogar zerstören.
Selten wird ein Begriff so häufig verwendet und zugleich doch in seiner tiefen Bedeutung so wenig verstanden wie Trauma. Eine Traumatisierung infolge eines überwältigenden Ereignisses kann von einem Moment auf den anderen das Leben eines Menschen verändern und sogar zerstören. Kinder sind in ihrer Abhängigkeit besonders gefährdet. Der Schutz ihrer Seelen gehört mindestens genauso zu ihrem Grundrecht wie körperliche Fürsorge und Unversehrtheit. Die Gründe für traumatische Wunden müssen nicht immer spektakulär sein. Oft reicht schon eine Operation oder ein Fahrradsturz um Kinder aus ihrem sensiblen inneren Gleichgewicht zu bringen.
Thomas war ein echter Sonnenschein. Neugierig und offen ging er mit seinen drei Jahren auf seine Umwelt zu. Er zeigte großes Vertrauen in andere Menschen und konnte mit Enttäuschungen gut umgehen. Dann passierte der Autounfall auf der Autobahn. Ein Bremsmanöver bei 130 km/h, ein lauter Krach von hinten und dann der Aufprall des nachfolgenden Wagens. Für die Beteiligen schien es dennoch Glück im Unglück zu sein. Nur Blechschäden, keine Verletzten. Körperlich kam niemand zu Schaden. Auch Thomas nicht. Doch seit jenem Tag ist der ehemals so fröhliche Junge für feine Beobachter verändert. Auf laute Geräusche reagiert er schreckhaft, er zieht sich immer häufiger in seine innere Welt zurück und isoliert sich stumm von seiner sozialen Umwelt. Tranceartig versinkt er tagtäglich stundenlang in die stets gleiche Spielabfolge mit seinen kleinen Autos, die immer mit einer Unfallszene endet.
Maria ist zwölf Jahre und in der Schule wie im Umgang mit Gleichaltrigen immer ein problemloses Kind gewesen. Für die Eltern war es daher völlig unverständlich und ein Schock, als sie durch den Klassenlehrer vom plötzlichen Leistungsabfall in gleich mehreren Fächern erfuhren. Dass sie seit einiger Zeit erschöpft und geistig abwesend wirke und sich auch immer mehr von ihren bisher so beliebten Freundinnen zurückzog, erschütterte die Eltern zutiefst. Umso mehr als sie sich den Grund für die Veränderungen nicht erklären konnten. So sehr sie auch nachdachten, es gab keinen sichtbaren Auslöser für den Wandel ihres Kindes. Ihr Lebenslauf zeigte außer einer Operation nach einem Sturz vom Fahrrad keine Auffälligkeiten. Auf direkte Fragen ging Maria nicht ein, sondern verstummte schon nach kurzer Zeit.
Daniela ist 32 und zutiefst glücklich als sie von der Schwangerschaft erfährt. Im Beruf ist sie erfolgreich, nach einigen gescheiterten Partnerschaften hat sie in ihrem Mann Robert den Partner für´s Leben gefunden. Das Glück scheint perfekt. Nur wenn sie ganz alleine im bereits vorbereiteten Kinderzimmer sitzt, spürt sie eine diffuse aber tief sitzende, nagende Angst. Manchmal hat sie dazu ein befremdendes Gefühl, dass die Welt um sie fast irreal wirkt und sie von dieser ein scheinbar losgelöster Teil ist. Als das Kind, ein Mädchen, schließlich auf der Welt ist, überfällt sie beim Besuch am Spielplatz plötzlich eine Panikattacke. Sie bekommt kaum noch Luft, fühlt sich in nackter Angst verfolgt und droht zu kollabieren. Diese Panikanfälle häufen sich bei folgenden Abstechern in den Park und schließlich vermeidet sie derartige Orte zur Gänze.
Ein Trauma verändert Körper und Seele
Drei Beispiele, die verschiedenartige Situationen zeigen und doch einen gemeinsamen Hintergrund haben: ein Trauma und eine daraus resultierende Posttraumatische Belastungsstörung. Der Begriff Trauma hat seine Wurzeln im alten Griechenland und bedeutet „Wunde“. Es kann entstehen, wenn ein Mensch äußeren Ereignissen und Erlebnissen ausgesetzt ist, durch die die körperliche oder/und psychische Integrität des Einzelnen oder der betroffenen Gruppe bedroht ist. Das können offensichtliche Gewalteinwirkungen wie Überfälle, Kriegserlebnisse oder sexueller Missbrauch genauso sein wie scheinbar harmlosere Vorfälle wie eine Operation, ein Sturz oder ein Unfall ohne große körperliche Verletzungen. In jedem Fall wird ein Trauma durch ganz individuell vom Opfer empfundene Gefühle der totalen Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit gegenüber der Situation, der Auflösung der inneren Persönlichkeitsstrukturen und Sicherheiten und der Verletzung eigener Grenzen erlebt. Im Augenblick des Traumaerlebens lösen sich bisher sichere Verbindungen zur Umwelt auf und die Betroffenen fühlen das absolute Ausgeliefertsein einer übermächtigen Person oder Situation gegenüber. Entscheidend ist dabei die ganz persönliche Bewertung einer Gefahr durch das Opfer. So ist es zu erklären, dass in gleichen Situationen manche Menschen traumatisiert werden, während andere ohne seelischen Schaden aus dem Erlebnis gehen können. Dabei spielen Eigenschaften wie Selbstwertgefühl, die Persönlichkeitsstruktur oder die soziale Unterstützung anderer Menschen eine entscheidende Rolle. Als Folge einer derart bedrohlichen Situation werden archaische Überlebensstrategien in uns aktiviert. Zunächst fokussiert sich das Handeln und Denken auf Flucht vor der Gefahr. Wird diese als nicht möglich bewertet, stellt sich die Kampf- und Abwehrreaktion des Betroffenen ein. Bleibt auch diese ohne Erfolg, folgen Menschen einer aus der Tierwelt bekannten Reaktion: der Erstarrung oder dem Totstell-Reflex um das Unausweichliche über sich ergehen zu lassen. Tiere in der Wildnis minimieren dadurch etwa Schmerzen, wenn sie zur Beute im Nahrungskreislauf werden. Diese Prozesse sind begleitet von gewaltigen neurologischen Veränderungen im Gehirn und Aktivierungsprozessen des Körpers. Es kommt zur massiven Ausschüttung von Hormonen von Adrenalin bis Vasopressin um die automatischen Überlebensreaktionen sicherzustellen. Das limbische System sorgt dafür, dass Geräusche, Gerüche, Stimmungen und Gefühle tief im Gehirn wahrgenommen und abgespeichert werden. Im Körper bauen sich riesige Energiemengen auf, die vom Betroffenen nicht beeinflusst werden können. Im Grunde sind all diese Reaktionen für den Augenblick der Gefahr sinnvolle Antworten und Strategien, um mit einer außergewöhnlichen Bedrohung fertig zu werden.
Posttraumatische Belastungsstörung als Folge traumatischer Erlebnisse
Während Tiere in freier Wildbahn allerdings angeborene Bewältigungsmethoden, wie zum Beispiel intensives Zittern nach der Bedrohung zum Abbau der enormen Energie im Nervensystem anwenden, sind derartige Prozesse beim Menschen häufig durch den Verstand blockiert. Die Folge kann die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung PTBS mit all ihren unangenehmen Zuständen sein. Wird eine traumatische Erfahrung nicht vollständig verarbeitet, bleibt sie in ihren einzelnen Teilkomponenten als reale Bedrohung bestehen und kann durch verschiedenste Auslöser wie bestimmte Klänge, Gerüche, Personen oder Begebenheiten, etc. wieder aktiviert werden. Typische Merkmale der PTBS reichen von intensiven Angstattacken, sozialem Rückzug und extremer Schreckhaftigkeit bis zu körperlichen Symptomen wie Phantomschmerzen bestimmter Körperteile, Rückenschmerzen oder Herzrasen. Besonders beeinträchtigend sind die intensiv das Alltagsleben hemmenden Dissoziationen. Dabei schildern Betroffene Zustände der Derealisation, das Gefühl des „Aus-dem-Körper gehens“ oder auch trance-ähnliche Empfindungen mit der Angst den Verstand zu verlieren. Zu den typischen Erscheinungen der PTBS zählen auch die sogenannten „Flashbacks“. Dabei erleben Opfer plötzlich auftretende Erinnerungsschübe in Form von Bildern, Gefühlen oder auch Gerüchen und Klängen aus der damaligen Bedrohungsituation. Generell befindet sich ein traumatisiertes Kind in einem permanenten Erregungszustand des Nervensystems, was auf Dauer zu Erschöpfung und auch Zusammenbrüchen führen kann.
Die Folgen zeigen sich oft noch Jahre nach dem Vorfall
Zeitlich kann das Auftreten von PTBS-Störungen sehr variieren. Im ersten Fall zeigten sich diese bei Thomas bereits kurz nach dem für ihn als traumatisch erlebten Unfall in Form von sozialem Rückzug und extremer Schreckhaftigkeit. Bei Kindern typisch ist auch der Versuch durch ständiges Nachspielen des Ereignisses die nicht verarbeitete Bedrohung zu bewältigen. Eine PTBS kann aber auch Jahre nach dem Ereignis entstehen. Maria hat den Fahrradsturz, die nachfolgende Operation und die Erlebnisse im Spital als lebensbedrohend erlebt. Seither ist sie als typische Vermeidungshandlung nie wieder Rad gefahren. Als ihre Schulklasse einen gemeinsamen Radausflug beschließt, löst das die traumatischen Erfahrungen wieder aus ohne dass dies Maria bewusst wäre. Vor allem bei besonders schwerwiegenden traumatischen Erfahrungen wie sexuellem Missbrauch, Misshandlungen oder Überfällen und ähnlichen Ereignissen schützen sich Kinder häufig durch totale Verdrängung und vermeintliche Löschung der Erinnerungen im Gehirn um emotional zu überleben. Durch gravierende Änderungen der Lebenssituation wie etwa der Geburt eines Kindes, dem Tod eines nahe stehenden Menschen oder auch Situationen, die der traumatischen Erfahrung ähneln, können diese lange verschütteten seelischen Wunden oft noch nach Jahrzehnten im Erwachsenenalter wieder aufgerissen werden. Bei Daniela wurden schon durch die Schwangerschaft unbewusst traumatische Gefühle der Angst und Derealisation ihrer Kindheit ausgelöst. Wie sich herausstellte, wurde sie als kleines Mädchen auf einem Spielplatz sexuell von einem Erwachsenen bedroht und konnte nur durch Glück dieser Gefahr entkommen. Sie reagierte mit Verdrängung und Löschung dieses überfordernden Ereignisses. Durch die Geburt ihres eigenen Kindes und der Ähnlichkeit des Spielplatzbereiches mit der damaligen Bedrohungsituation wurde selbst Jahrzehnte danach eine PTBS ausgelöst.
Auswege aus dem Trauma sind möglich
Erfahrungen zeigen, dass die Auswirkungen eines Traumas und die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung entscheidend von der Reaktion und Unterstützung der Bezugspersonen im Umfeld des Kindes abhängen. Je mehr Einfühlungsvermögen, menschlicher Halt und die richtige Beurteilung von Veränderungen im Verhalten durch Eltern, Kindergartenbetreuer, Schule oder andere nahe stehende Personen gegeben ist, desto besser und frühzeitiger können die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen gelindert werden. Veränderungen im Wesen eines Kindes müssen nicht, können aber die Folgen traumatischer Erlebnisse sein. Daher sollten Verhaltensauffälligkeiten wie sozialer Rückzug, Angstanfälle oder plötzliche Abneigung von Orten oder Personen immer ernst genommen werden. Speziell Kinder können eventuelle Gewalterlebnisse schwer in Worte fassen und wählen oft den Umweg über Spielen oder Zeichnen. Im Zweifel – insbesondere, wenn PTBS ähnliche Zustände beobachtet werden oder die Verhaltensänderungen längere Zeit anhalten –sollte professionelle psychologische Hilfe in Anspruch genommen werden. Die größten Schädigungen in der Seele von Kindern entstehen, weil Bezugspersonen die Signale nicht hören können oder wollen und Scham davor haben Unterstützung anzunehmen.
Verschiedene Lösungsansätze als Hilfe
Zur Bewältigung und Integration traumatischer Erfahrungen stehen unterschiedlichste psychologische Ansätze von geschulten Psychotherapeuten zur Verfügung. Neben tiefenpsychologischen Methoden und Hypnotherapie haben sich EMDR und seit einigen Jahren das Somatic Experiencing nach Peter Levine bewährt. Bei EMDR lassen sich die Klienten auf unangenehme Gefühle, Erinnerungen oder auch Körperempfindungen ein, während der speziell ausgebildete Therapeut durch äußere Wahrnehmungsreize wie etwa Augenbewegungen oder Handzeichen die Integration der traumatischen Erfahrungen anleitet. Somatic Experiencing geht davon aus, dass traumatische Erlebnisse neben den seelischen Spuren tiefgreifende Blockaden im Nervensystem auf körperlicher Seite hinterlassen. Trauma wird daher bewusst auch als eine biologisch unvollständige und unterbrochene Antwort des Körpers auf Bedrohungen gesehen. Gleichzeitig geht Peter Levine als Begründer dieser Traumalösung davon aus, dass Menschen analog zu wild lebenden Tieren eine instinktive Fähigkeit zur Selbstheilung besitzen, die nur durch den Verstand oder auch gelernte kulturelle Regeln blockiert sind. Bei der Aufarbeitung von Schock- und Traumaerlebnissen wird daher versucht die im Nervensystem gebundene Energie schrittweise und in Einklang mit den persönlichen Ressourcen des Kindes zu „entladen“. Das kann durch Auszittern genauso sein wie durch Schütteln. Biologische Prozesse werden schonend zu Ende gebracht und integriert. Dadurch werden Re-Traumatisierungen vermieden und es kommt zu einer integrativen Heilung seelischer und körperlicher Wunden des Opfers. Und damit zur echten Chance später als Erwachsener ein unbelastetes Leben frei von unverschuldeten Störungen zu führen.
Buchtipps:
„Verwundete Kinderseelen heilen“ Peter A. Levine/Magie Kline Verlag Kösel
„Trauma-Heilung“ Peter A. Levine Verlag Synthesis
Infokasten:
Erste Hilfe für Kinder nach traumatischen Erlebnissen
- Selbst ruhig bleiben und vor einer Gefühlsüberflutung abgrenzen. Wer selbst die Fassung verliert, kann nicht wirksam helfen
- Präsent sein, Schutz und Fürsorge vermitteln. Beim Kind bleiben und nicht alleine lassen
- Auf Körperreaktionen achten und notfalls Erste Hilfe leisten
- Achten Sie auch auf Ihre non-verbalen Signale, wie z.B. Stimmlage, Blick, etc., ob diese Halt und Sicherheit vermitteln
- Nehmen Sie die Ängste und Schilderungen eines Kindes ernst und lassen Sie es sprechen. Keine Sätze wie „War ja nicht so schlimm“ oder „Ist doch gar nichts passiert“. Sagen Sie dem Kind vielmehr, dass Sie verstehen was es gerade durchmacht. Dass es weh getan hat und dass Sie und die Ärzte/anderen Unterstützer ihm helfen, dass es erträglicher/besser wird
- Lassen Sie körperliche Entladungen von Traumaenergie, wie z.B. Weinen, Zittern, etc., zu und unterbinden Sie diese nicht. Streicheln Sie das Kind dabei, legen Sie Ihre Hand auf den Rücken und kommunizieren Sie, dass das Schlimmste vorbei ist